Rezension: «Tage des Zorns» und «Die Golfstaaten»

Neue Zürcher Zeitung, 1. Dezember 2011

Michael Lüders: Tage des Zorns Rainer Hermann: Die Golfstaaten Lange Zeit sah es so aus, als habe Ägypten vollends abgewirtschaftet, während die Golfstaaten die Zukunft der arabischen Welt repräsentierten. Die Aufstände im Nahen Osten haben die Sichtweise verändert.

Früher einmal war Ägypten der Nabel der arabischen Welt. Ob mit Wohlwollen oder Abneigung, die Region schaute auf Kairo, das nicht nur politisch, sondern auch kulturell mächtig war. Die Menschen berauschten sich an dem früheren ägyptischen Präsidenten und Vater des Panarabismus Gamal Abdel Nasser ebenso wie am ägyptischen Kino. Von dem einstigen Strahlen ist wenig geblieben. Kairos Kino produziert schon seit langem lieber billigen Kitsch als Qualität. Politik und Gesellschaft erstarrten unter Nassers Nach-Nachfolger Mubarak so sehr, dass Ägypten seine Zukunft schon hinter sich zu haben schien. Kairo bedeutete nicht mehr Glanz und Gloria, sondern nur noch Dreck und Chaos.

So sehr hatte Ägypten abgewirtschaftet, dass es für Rainer Hermann, Korrespondent der «Frankfurter Allgemeinen Zeitung» in der Region, zum «alten Arabien» verkommen war. Dazu zählt er auch Syrien und den Irak, die wie Kairo auf die autoritäre Macht des Militärs, panarabischen Nationalismus und Sozialismus gesetzt hatten und ebenso endeten: erstarrt, korrumpiert, kraftlos. Längst haben ihnen andere Länder den Rang abgelaufen, vor allem die Emirate, die mit ihren Petrodollars die Wüste in Metropolen verwandeln. Für Hermann sind sie das «neue Arabien», das er in seinem Buch «Die Golfstaaten» porträtiert.

Altes Arabien, neues Arabien – das war der Stand der Dinge bis zum Frühjahr 2011. Nun aber sind die «Tage des Zorns» ausgebrochen, wie Michael Lüders sein Buch über den Aufstand der arabischen Jugend nennt. Plötzlich zeigt das «alte Arabien», dass es doch noch lebt. Lüders blickt nach Kairo, Tripolis, Tunis und Damaskus, aber auch nach Saudiarabien und auf den Nachrichten- kanal al-Jazira, die journalistische Herzkammer der Revolution. Er greift dabei auf seinen Fundus zurück, der mit Erfahrungen aus vielen Reisen in die Region gefüllt ist. Hätte er sich Floskeln wie «Alles hängt mit allem zusammen» erspart, wäre das Buch noch besser geworden.

Mit Hermann stimmt Lüders darin überein, dass der grösste Teil der Region abgewirtschaftet hat, wofür er vor allem die «blockierte Entwicklung von einer ländlich geprägten Feudal- in eine städtische Industriegesellschaft» verantwortlich macht. Nicht die Individuen haben die arabischen Länder regiert, sondern Familien und Clans mit Hilfe von Militärs und Geheimdiensten. Während sich korrupte Eliten bereicherten, leiden die Massen unter Armut und Elend, ohne Aussicht auf Aufstieg.

Die tiefe Frustration hat sich in Zorn verwandelt, der die Aufständischen antreibt. Mag es in Kairo zuletzt wieder zu blutigen Auseinandersetzungen gekom- men sein, der Drang nach Freiheit bleibt. Denn eins hat sich laut Lüders unwiderruflich verändert: das Bewusstsein. Wo die Menschen früher aus Angst schwiegen, diskutiert heute die ganze Gesellschaft über Politik.

Das «alte Arabien» hat also begonnen, sich zu erneuern. Lüders sieht einen Epochenwandel. Auf dem Weg zur Demokratie räumt er Tunesien und Ägypten das grösste Potenzial ein, da es in beiden Ländern funktionierende staatliche Institutionen, eine gut ausgebildete Jugend und Mittelschichten als Träger des Wandels gebe. Für Kairo sieht er wieder bessere Zeiten: «Vieles spricht dafür, dass Ägypten nach einer Phase der Konsolidierung seine frühere Rolle als Leitbild zurückgewinnen wird.» Und die Golfstaaten? Lüders beurteilt sie skeptisch. Äusserlich hätten sie den Sprung in die Moderne vollzogen. «Politik und Gesellschaft jedoch, einschliesslich der vorherrschenden Wertesysteme und Mentalitäten, sind noch immer feudalistisch geprägt.»

Hermann dagegen singt ein Loblied auf die Emirate, die ein Entwicklungs- modell seien, das auf die ganze Welt ausstrahle. Sie zeichneten sich durch gute Regierungsführung, wirtschaftliche Partizipation, einen undogmatischen Islam und Toleranz gegenüber Andersgläubigen aus. Vor allem Dubai hat es ihm angetan: «Dubai wurde zur Metapher dafür, was Araber und Muslime zu leisten in der Lage sind, wenn man ihnen nur Freiheit gibt. Wie in der Not Amerika zum Traumland der Alten Welt geworden war, ist Dubai zum Traumland der Araber und der Iraner geworden.»

Keine Frage: Hermann hat ein hervorragendes Buch über die Golfstaaten geschrieben. Kein anderer Journalist weiss so viel über diesen Teil des Nahen Ostens wie er. Doch so beachtlich der Aufbau der Emirate ist – Hermann lässt ihnen zu viel der Ehre zukommen. Mancher Araber mag neidisch auf die Golfstaaten blicken. Sie taugen aber für die anderen arabischen Staaten nur bedingt als Modell, zu unterschiedlich sind die Bedingungen: hier Ölreichtum und homogene Gesellschaften, dort Armut und gesellschaftliche Gegensätze.

Die Kategorien altes und neues Arabien helfen deswegen kaum weiter, um die Region zu analysieren und zu verstehen. Und jetzt sind auch noch die Revolutionen ausgebrochen. Mit einem Schlag blickt nicht nur die arabische Welt so gespannt Richtung Kairo wie seit langem nicht mehr. Hermanns These wird es da schwer haben, sich zu behaupten.

Michael Lüders: Tage des Zorns. Die arabischen Revolutionen verändern die Welt. C.H. Beck Verlag, München 2011. 207 Seiten, 19,95 Euro.

Rainer Hermann: Die Golfstaaten. Wohin geht das neue Arabien? Deutscher Taschenbuch Verlag, München 2011. 360 Seiten, 14,90 Euro.

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