Das Eingreifen der Armee in Ägypten löst das Kernproblem des Landes nicht: die starke Polarisierung und die mangelnde Kompromisskultur der politischen Kräfte. Stattdessen vergrößert es die Kluft zwischen den Lagern. Das sind keine guten Aussichten für die Demokratisierung des Landes. Eine Analyse.
Dieser Artikel ist unter dem Titel »Die blockierte Demokratie« auch auf Qantara.de erschienen.
In Ägypten bestätigt sich gerade eine Vorhersage aus den Anfangstagen der Revolution im Frühjahr 2011. Damals warnten manche Stimmen vor einer neuen »islamistischen Diktatur«, die entstehen könnte, sollte Hosni Mubarak gestürzt werden. Das Gegenargument lautete, die Ägypter würden eine neue Form der Autokratie niemals akzeptieren und gegen sie ein weiteres Mal in Massen auf die Straße und Plätze ziehen. Genau das erlebt das Land in diesen Tagen: Die Ägypter wehren sich gegen eine Regierung, die in ihren Augen immer mehr diktatorische Züge angenommen hat.
Das politische Versagen des ägyptischen Präsidenten Muhammad Mursi und seiner von den Muslimbrüdern dominierten Regierung ist so umfassend, dass niemand Mitleid mit ihnen haben muss. Sie haben sich ihre Lage selbst zuzuschreiben. Ihre Regierungsführung war so schlecht, dass sie keines der drängenden Probleme des Landes gelöst, sondern sie vielmehr verschlimmert haben. Ägypten ächzt unter einer dramatischen Wirtschaftslage, auch die Sicherheit ist nicht zurückgekehrt.
Die Muslimbrüder bekennen sich zwar grundsätzlich zur Demokratie – was glaubwürdig ist –, haben es aber verpasst, dieses Bekenntnis in der Praxis mit Leben zu füllen. Schließlich ist Demokratie mehr als freie Wahlen. Vor allem haben sie es nicht geschafft, ihre Gegner in den demokratischen Prozess einzubinden, was ein Kapitalfehler war.
Dennoch macht man es sich zu einfach, nur die Muslimbrüder für das Scheitern des ersten demokratischen Versuchs verantwortlich zu machen. Der Demokratisierungsprozess wurde von Anfang an von Institutionen boykottiert, die von Vertretern des alten Mubarak-Regimes geprägt sind. Hier zeigt sich, wie fatal es war, beim Sturz Mubaraks nur die erste Reihe der politischen Elite auszutauschen, weite Strukturen des alten Systems aber zu erhalten. Vor allem aus der Justiz gab es starken Widerstand. So löste das Oberste Verfassungsgericht im Juni 2012 das Parlament auf, das in den freiesten und fairsten Wahlen gewählt worden war, die Ägypten jemals erlebt hat.
Vor diesem Hintergrund sind auch die Vollmachten zu sehen, die sich Mursi im vergangenen November gegeben hat. Es entschuldigt zwar nicht eine »Politik per Dekret«, ordnet diesen Schritt aber in einen Kontext ein.
Auch die liberale und säkulare Opposition hat sich seit dem Sturz als extrem schwach erwiesen. Sie hat es zu keinem Zeitpunkt geschafft, sich programmatisch und organisatorisch so aufzustellen, dass sie eine ernstzunehmende Alternative zu den islamistischen Kräften darstellt. Im Angesicht ihrer eigenen Schwäche hat sie es oft vorgezogen, sich dem politischen Verhandlungsprozess zu verweigern und auf Fundamentalopposition zu setzen: Man marschierte lieber aus dem Verhandlungssaal, als am Tisch sitzen zu bleiben.
Letztlich ist der erste Demokratieversuch im Wesentlichen gescheitert, weil es nie gelungen ist, die massive Kluft zwischen den verschiedenen Lagern in Ägypten zu überwinden und eine demokratische Kompromisskultur zu etablieren, die alle Seiten einbindet: die religiös-islamistischen Kräfte genauso wie die linken, liberalen und säkularen.
Die Absetzung Mursis besitzt eine massive Legitimation des Volkes. Die Hunderttausende oder Millionen, die gegen ihn auf die Straße gezogen sind, haben ein Urteil gesprochen, das man nicht übergehen darf. Und dennoch: Mursi und die Muslimbrüder sind in freien Wahlen an die Regierung gekommen – auch sie haben ein Mandat des Volkes. In den vergangenen Tagen gab es zudem viele große Demonstrationen für den Präsidenten. Hier steht Legitimation gegen Legitimation, und es lässt sich kaum beurteilen, wer tatsächlich die Mehrheit hat.
Die ägyptische Armeeführung hat sich für den Tahrir-Platz entschieden. Es ist naiv zu glauben, den Militärs ginge es darum, die Demokratie im Land zu retten. Sie wollen vor allem ihre eigene Pfründe in Form eines Wirtschaftsimperiums und ihre Unabhängigkeit gegenüber der Politik sichern. Für sie war der passende Zeitpunkt gekommen, um sich an Mursi zu rächen, der im vergangenen Jahr den Hohen Militärrat ein Stück weit entmachtet hatte. Das Vorgehen der Armee mag von großen Teilen der Ägypter gutgeheißen und sogar bejubelt werden – dennoch ist es eine Form von Putsch gegen einen frei gewählten Präsidenten. Mit Demokratie lässt sich ein solcher Militärstreich nur schwerlich vereinbaren.
Viel entscheidender ist jedoch, dass er das Kernproblem des Landes nicht löst: die starke Polarisierung der politischen Kräfte. Die Muslimbrüder mögen politisch versagt haben – sie sind aber noch immer eine starke Kraft im Land und repräsentieren große Teile der Bevölkerung. Diese werden jetzt mit Gewalt an die Seite gedrängt, denn es ist schwer vorstellbar, dass sich die Muslimbrüder in eine Übergangsregierung einbinden lassen. Das Vorgehen der Armee führt dazu, dass die Kluft zwischen den Lagern noch größer wird, dass politische Kompromisse noch unwahrscheinlicher werden, dass Ägypten noch unregierbarer wird – und dass das Land im schlimmsten Fall sogar in massive Gewalt abgleitet.
Das Militär hat sich schon bei seiner ersten Machtübernahme als unwillig und unfähig erwiesen, das Land Richtung Demokratie zu führen, vielmehr regierte es mit harter Knute. Damals stimmte der Tahrir-Platz den Slogan »Stürzt die Militärherrschaft« an und trotzte den Generälen ihren Rückzug ab. Jetzt unterbrachen die neuen Machthaber umgehend die TV-Übertragungen von Pro-Mursi-Demonstrationen, schlossen islamistische TV-Sender und verhafteten führende Muslimbrüder. Sie legen die politischen Geschicke in die Hände des obersten Verfassungsrichters, also dem Vorsitzenden der Institution, die das frei gewählte Parlament aufgelöst und so maßgeblich die Demokratisierung blockiert hat. Ägypten auf dem Weg zu mehr Demokratie?
Die Alternative in der jetzigen Phase wäre gewesen, die Demonstrationen gegen Mursi so lange fortzusetzen, bis er einem Minimalkompromiss in Form von Neuwahlen zugestimmt hätte. Diese hätten im Übrigen früher oder später ohnehin angestanden. Letztlich sind Wahlen das einzige Instrument, mit dem das Volk seinen Regierenden Legitimation verleihen kann.
Wer profitiert von dem Sturz Mursis? Nach dem jetzigen Stand der Dinge ist nicht abzusehen, dass die liberale und säkulare Opposition bei möglichen Neuwahlen deutlich besser abschneidet. Sie ist noch immer zersplittert und organisatorisch schwach aufgestellt. Sie müsste diesen Mangel schon in Rekordzeit beheben, wollte sie sich als Alternative anbieten.
Die Muslimbrüder haben einen Rückschlag erlitten, werden aber weiter eine maßgebliche Kraft bleiben, zu stark sind sie seit Jahrzehnten in der ägyptischen Gesellschaft verankert. Wobei sich die Frage stellt: Was passiert eigentlich, wenn ihr politischer Arm, die Partei für Freiheit und Gerechtigkeit, wider Erwarten die nächsten Wahlen gewinnt?
Profitieren dürften die noch radikaleren religiösen Kräfte, die Salafisten, die schon bei den ersten Parlamentswahlen fast 30 Prozent gewonnen hatten. Auch Vertreter des alten Mubarak-Regimes werden sich neu organisieren und möglicherweise auf ein erhebliches Maß an Zustimmung treffen. Frei nach dem Motto: So schlecht war dann früher auch nicht alles, zumindest gab es ein gewisses Maß an politischer Stabilität. Nicht zu vergessen: Schon die letzten Präsidentschaftswahlen hätte mit Ahmed Schafik fast ein Vertreter dieser alten Garde gewonnen.
Der Jubel über den Sturz Mursis mag groß und nachvollziehbar sein: Für die Demokratisierung des Landes könnte das Eingreifen des Militär jedoch fatale Folgen haben.