Die Muslimbrüder und der Pluralismus
Vieles spricht dafür, dass die Muslimbrüder nach den Parlamentswahlen in Ägypten eine starke Rolle spielen werden. Sie sind so gut organisiert wie keine andere politische Kraft im Land, doch inhaltlich auch schwer zu greifen. Was wollen die Islamisten?
Die Zentrale der ägyptischen Muslimbrüder in Kairo. Im Foyer der mehrstöckigen Villa begrüßt Muhammad Saad einen alten Bekannten. An diesem Morgen sitzen hier mehrere Männer in schweren Sesseln und warten, um führende Vertreter der Muslimbrüder zu treffen – so auch der 51 Jahre alte Muhammad Saad, ein Mann mit kurzen Haaren und gepflegtem Vollbart. Er kann viel erzählen über die Organisation. Er hat zwar kein Amt inne – aber schon sein Vater war Buchhalter des Gründers der Bruderschaft, Hassan al-Banna. Sohn Muhammad wuchs in der Gemeinschaft auf:
»Ich bin ein Muslim. Der Islam wird heute sehr unterschiedlich interpretiert. Die Muslimbruderschaft steht für ein bestimmtes Verständnis des Islam. Eines, das umfassend und gemäßigt ist. Es schwankt nicht nach rechts und links. Die Muslimbrüder beanspruchen für sich, in der Mitte zu stehen. Es ist in dem Sinne umfassend, als dass es alle Lebenssphären umspannt. Ein Muslim in der Muslimbruderschaft zu sein heißt, dass ich den Islam so korrekt ausübe, wie es nur eben geht.«
Muhammad Saad lebt in Saudi-Arabien, wo er Ingenieurwesen lehrt. Doch dann brach in seiner Heimat Ägypten der Aufstand gegen das Regime Mubarak aus.
»Als ich von der Revolution hörte, bin ich nach Ägypten zurückgekehrt. Ich blieb 15 Tage auf dem Tahrir-Platz, ohne nach Hause zu gehen. 24 Stunden am Tag, sieben Tage die Woche. Ich habe die ganze Revolution von unten miterlebt. Ich war der Meinung, dass das eine Pflicht gegenüber meinem Land ist. Als ich gesehen habe, dass ein total korruptes Regime entweder reformiert oder sogar gestürzt werden kann, blieb ich einfach mit meiner ganzen Familie in Kairo.«
Erst spät hatten sich die Muslimbrüder im Frühjahr dem Aufstand gegen den Diktator angeschlossen. Sie zögerten so lange, dass sie beim Aufruhr nur eine Nebenrolle spielten. Dann aber reihten sie sich in die Proteste ein und trugen schließlich doch dazu bei, das Regime Hosni Mubaraks zu stürzen. Seitdem herrschen in Ägypten andere Verhältnisse. Am 28. November soll es die ersten freien Parlamentswahlen geben, später die Wahl eines neuen Präsidenten.
Vieles spricht dafür, dass die Muslimbrüder eine starke Rolle spielen werden. Sie sind so gut organisiert wie keine andere politische Gruppierung in Ägypten – und sie sind populär, weil sie Schulen und Krankenhäuser gebaut haben und den Armen helfen. Unter Mubarak und seinen Vorgängern waren sie verboten, aber trotzdem fast überall präsent. Davon profitieren sie bis heute, sagt der Politologe Omar Ali Hassan, Leiter der wissenschaftlichen Abteilung der ägyptischen Nachrichtenagentur Mena:
»Im Verhältnis zur Gesamtbevölkerung Ägyptens ist die Zahl der Muslimbrüder klein. Wir reden über einige hunderttausend Mitglieder in einem Land mit 80 Millionen Menschen. Aber die Muslimbrüder sind die einzige organisierte Kraft. In den nächsten Jahren werden sich mit den neuen politischen Freiheiten andere organisierte Kräfte entwickeln. Dann werden die Muslimbrüder ein Teil von ihnen sein. Aber nicht im Moment. In fünf Jahren wird sich das politische Gleichgewicht völlig verändert haben. Jetzt aber sind die Muslimbrüder die einzige Kraft, die organisiert aus der Revolution hervorgegangen ist. Sie sind am besten vertreten. Es ist zu erwarten, dass sie bei den Wahlen die Mehrheit der Parlamentssitze gewinnen.«
Was aber passiert, wenn die Muslimbrüder die Wahlen gewinnen oder sogar die Regierung stellen? Sind sie wirklich eine gemäßigt religiöse Kraft der Mitte, politikfähig und bereit zu Kompromissen, wie ihr Mitglied Muhammad Saad behauptet? Nicht nur in Ägypten befürchten viele, dass die Muslimbrüder einen strengen islamischen Staat schaffen werden, sollten sie wirklich an die Macht kommen.
Gerade Christen ist unwohl bei dem Gedanken an eine Muslimbruder-Regierung, weil sie ihre Rechte in Gefahr sehen. Ägyptens Kopten hatten lange zu Mubarak gehalten, da sie sich von ihm Schutz vor radikalen Islamisten versprachen. Zwar beteuern die Muslimbrüder, sie wollten eine Demokratie und gleiche Rechte für alle – doch Kritiker nehmen ihnen dieses Bekenntnis nicht ab. Rifaat El-Said zum Beispiel, der Vorsitzende der linken Tagammu-Partei:
»Sie versuchen, uns hinters Licht zu führen. Sie sagen, dass sie mit uns zusammen einen modernen und zivilen Staat schaffen wollen. Gleichzeitig aber verteilen sie in der Straße Flugblätter und sprechen davon, dass sie eine muslimische Gesellschaft, eine muslimische Herrschaft, einen muslimischen Staat errichten wollen. Man muss erkennen, dass sie mit doppelter Zunge sprechen.«
Tatsächlich sind die Muslimbrüder schwer zu greifen. Sie waren immer schon eher eine sozial-religiöse Bewegung, keine politische Partei. Gegründet wurden sie 1928 von dem Intellektuellen Hassan al-Banna, der die Organisation über Jahre prägte. In einer Zeit der Modernisierung wollte er den Islam und die religiösen Traditionen stärken – eine Reaktion auf den zunehmenden Einfluss des Westens.
Im Umfeld der Muslimbrüder konnte sich Sayyid Qutb einen Namen machen – er gilt als Vordenker und Theoretiker des gewaltbereiten Islam. Viele Muslimbrüder landeten in den Gefängnissen des Regimes – obwohl die Organisation bereits Anfang der 1970er Jahre der Gewalt abgeschworen hatte und auch demonstrativ Abstand zu Osama bin Laden und Al Kaida hielt.
Die Angst vor der Verfolgung durch den Staat hat die Mentalität der Muslimbrüder geprägt. Ihre öffentlichen Aussagen bleiben entsprechend vage. Nach außen hin schotten sie sich ab. Bis heute herrscht ein strenger Korpsgeist, mit dem sich die Gemeinschaft vor Anfeindungen schützen will. Vor allem viele Ältere dächten noch in alten Freund-Feind-Mustern, sagt Muhammad Saad:
»Vor der Revolution waren wir wie ein Schiff in einer sehr aufgewühlten See. Wir sahen, dass wir das einzige Schiff waren, das in unsere Richtung fuhr. Daneben gab es ein anderes Schiff, ein Piratenschiff, das versuchte, auf uns zu schießen. Wir taten alles, um unsere Mitglieder nicht zu verlieren. Wer von unserem Schiff herunter sprang, hatte nur zwei Möglichkeiten: Entweder er ertrank im Meer oder er wurde auf dem Piratenschiff der Regierung aufgenommen. Es gab keinen anderen Platz. Wer allein schwimmen wollte, wurde von einem Hai aufgefressen. Es gab nur diese zwei Optionen.«
Dass die Rhetorik der Muslimbrüder oft im Ungefähren bleibt, hat die Gemeinschaft aber auch stark gemacht. Ihre über lange Zeit verbreitete Botschaft „Al-Islam hua al hall“ – der Islam ist die Lösung für alle Probleme des Landes -, ist so allgemein, dass sich die verschiedensten Gruppen unter dem Dach der Muslimbrüder zusammenfinden konnten: radikale und konservative Kräfte genauso wie gemäßigte. So wurden die Muslimbrüder zu einer Massenorganisation. Auch heute legen sich die Ikhwan al-Muslimin, wie sie auf Arabisch heißen, kaum auf konkrete Aussagen fest.
Saad al-Husseini ist einer von ihnen. Er hat sich auf einem der Sessel in der Zentrale der Muslimbrüder niedergelassen. Al-Husseini trägt den Bart eines gläubigen Muslims, dazu Anzug und Krawatte. Er war lange Mitglied des Leitungsgremiums der Muslimbrüder, des Maktab al-Irschaad. Jetzt gehört er zur Spitze des neu gegründeten politischen Arms der Organisation, der Partei für Freiheit und Gerechtigkeit. Ja, sagt Saad al-Husseini, seine Organisation wolle einen islamischen Staat.
»Wir sind der Auffassung, dass die Politik ein Teil der islamischen Religion ist. Aber was ist denn die Religion? Die Religion wird im politischen Leben für die Freiheit eingesetzt. Die Gerechtigkeit zwischen den Menschen – dafür steht die Religion auch. Das Prinzip der Beratung und die Demokratie, das sind religiöse Werte. Die Sicherheit aller Menschen, die Würde aller Menschen, gleich ob Muslime oder Christen, das sind sowohl religiöse als auch politische Werte. Die Glaubensfreiheit für alle Menschen, Muslime, Christen, Juden, das ist ein religiöser Wert. Die Ablehnung der Theokratie. Es gibt im Islam keine Herrschaft der Geistlichen. Wir betrachten all das als religiöse Werte. Die Menschen nennen es politische Werte. Aber wir meinen das Gleiche.«
Dennoch stehen die Muslimbrüder für einen Dominanzanspruch des Islam. In einem islamischen Staat, sagt al-Husseini, hätten alle Bürger die gleichen Rechte und Pflichten, auch die Christen. Allerdings mit einer Ausnahme:
»Unabhängig von ihrer Zahl können Christen beliebig viele Ämter übernehmen. In Vereinigungen, als Provinzgouverneure, in der Armee, in der Justiz, bei der Polizei, überall. Wir sind lediglich der Auffassung, dass die Christen in ihrem eigenen Interesse nicht die Präsidentschaft des Landes übernehmen können. Aus Gründen der Demokratie, aus religiösen Gründen. Es ist in ihrem eigenen Interesses, dass sie nicht den Präsidenten stellen.«
Solche Aussagen sind es, die die Kritik an den Muslimbrüdern anheizen. Andererseits: Wie viele führende Vertreter der Ikhwan betont auch Saad al-Husseini, dass letztlich das Volk zu entscheiden habe. Für einen Islamisten ist das ein bemerkenswerter Satz, schließlich gilt für überzeugte Muslime allein Gott als höchste Instanz. Radikale Kräfte im Islam lehnen die Demokratie mit dem Argument ab, nicht der Wille des Volkes sei entscheidend, sondern ausschließlich der Wille Gottes.
Die Berliner Islamwissenschaftlerin Gudrun Krämer unterscheidet deshalb zwischen den Muslimbrüdern und extremistischen Kräften, die auch für die Gewaltakte gegen koptische Christen in Ägypten verantwortlich zu machen seien:
»Das sind Kräfte, die man in jüngster Zeit als Salafisten bezeichnet, also als Vertreter einer rückwärtsgewandten, streng puritanisch, wortgläubigen Interpretation des Islam, die mit den Muslimbrüdern nichts gemein haben, außer dem entschiedenen Bekenntnis zum Islam, die aber von Kopten und anderen nicht klar unterschieden werden von den Muslimbrüdern, sondern als unterschiedliche Sprecher eines einzelnen, einigen islamistischen Lagers wahrgenommen werden.«
Gemessen an den radikalen Salafisten sind die Muslimbrüder in der Tat gemäßigt. Ihre Partei will zwar das islamische Recht, die Scharia, als Hauptquelle der ägyptischen Gesetzgebung – sie bekennt sich im Wahlprogramm aber zugleich zur Meinungs- und Glaubensfreiheit. Sie fordert eine Demokratie mit freien Wahlen und Gewaltenteilung. Zugleich beteuert sie, sie wolle gleiche Rechte für alle, auch für Minderheiten und Frauen.
Ein gemeinsames Wahlbündnis mit salafistischen Kräften ist bereits an den unvereinbaren Positionen zerbrochen. Um Kritiker zu besänftigen, machten die Muslimbrüder mit Rafiq Habib einen Christen zum Vizechef ihrer Partei – ein geschickter Schachzug, der die öffentliche Wahrnehmung einer intoleranten Organisation korrigieren sollte. Zudem kandidieren die Muslimbrüder bei den Parlamentswahlen nicht für alle Sitze. Bei den Präsidentschaftswahlen verzichten sie auf einen Bewerber, sagt der führende Muslimbruder Saad al-Husseini:
»Hosni Mubarak hat das politische Leben zerstört. Wir könnten jetzt die Gelegenheit nutzen, für alle Parlamentssitze zu kandidieren und andere starke Kräfte aus dem Parlament zu halten. Aber das ist nicht im Interesse Ägyptens und der Muslimbrüder. Wir wollen auch den anderen Parteien – islamischen und nicht-islamischen – die Chance geben, sich am Neuaufbau des politischen Lebens zu beteiligen.«
Hinter dieser Zurückhaltung dürfte aber auch und vor allem die Angst vor dem Militär stehen. Nach dem Sturz Mubaraks regieren die Generäle das Land. Sie beteuern zwar, sie wollten die Macht wieder abgeben – doch dürften sie dazu nur dann bereit sein, wenn ihre eigenen Pfründe unangetastet bleiben. Das Militär genießt viele Privilegien und kontrolliert ein großes Wirtschaftsimperium. Politisch möchten die Generäle unabhängig bleiben. So treibt die Muslimbrüder die Sorge um, dass die Armee eingreifen könnte, wenn die Islamisten bei den Wahlen zu stark werden sollten.
Mataria, ein Stadtteil Kairos. Hier leben die Ärmsten der Armen in schäbigen mehrstöckigen Häusern aus Beton. Auf der Straße liegt überall Müll. Eselskarren bahnen sich einen Weg durch Dreck, Tiere und Menschen. Doch auch hier ist das neue Ägypten angekommen. Ein Wahlkämpfer ist auf eine Bühne gestiegen – er bewirbt sich um das Amt des Präsidenten. Die meisten Zuhörer-Stühle sind besetzt. Doch zunächst scheppert die Nationalhymne aus den Lautsprechern.
Der Kandidat heißt Abdul Monem Abul Futouh und gehörte lange zur Spitze der Muslimbrüder. Doch er wurde ausgeschlossen, weil er nun gegen den Willen der Organisation bei den Präsidentschaftswahlen antritt. Der grauhaarige Mann hat an diesem Abend vor allem ein Thema, das vielen Ägyptern aus der Seele spricht: Nicht mehr die Diktatoren entschieden künftig über das Schicksal Ägyptens, auch nicht das Ausland – sondern allein das Volk.
»Der ägyptische Präsident, die ägyptische Regierung, das ägyptische Parlament und die ägyptische Verfassung werden nur nach dem Willen der Ägypter bestimmt. Nach dem Willen aller Ägypter, aus allen politischen Richtungen und Lagern, aus allen Gruppen, Vierteln und Schichten.«
Es sind nationale, keine religiösen Töne, die Abul Futouh anstimmt. So aggressiv er klingen mag: Abul Futouh gehörte immer zum Reformflügel der Muslimbrüder. Eine Vermischung von Politik und Religion lehnt er ab. Die Kämpfe innerhalb der Muslimbrüder zwischen konservativen Kräften und Reformern wie Abul Futouh sind Jahrzehnte alt. Nach dem Sturz Mubaraks und unter dem Vorzeichen neuer Freiheiten treten sie jedoch stärker zutage als jemals zuvor.
Abul Futouh ist dafür ein Symbol. Auch viele der jüngeren Ikhwan begehren auf. Statt Diskussionen in geschlossenen Zirkeln wollen sie offene Debatten. Aus Ärger über die Führung haben einige junge Muslimbrüder mit der Strömungspartei ihre eigene politische Kraft ins Leben gerufen, erzählt Mitbegründer Mohamed Maher Akl:
»Es sind bei der Gründung der Partei der Muslimbrüder viele Entscheidungen getroffen worden, die nicht richtig waren. Der Vorsitzende der Partei, der Generalsekretär, dessen Stellvertreter, die Regionalvorsitzenden sind vom Schura-Rat der Muslimbrüder bestimmt worden und nicht von den Gründern. Das beweist, wie stark die Muslimbrüder bis jetzt die Partei im Griff haben. Die Partei muss aber in ihren Entscheidungen völlig frei sein. Sie muss die Gelegenheit haben, die Meinung ihrer Mitglieder auszudrücken und nicht die der Muslimbrüder.«
Solch offener Protest aus den eigenen Reihen ist neu für die Muslimbrüder – bei vielen Älteren stößt er auf Unverständnis, auch bei Muhammad Saad:
»Das ist wie ein Unternehmen. Ich arbeite für ein Unternehmen, das eine bestimmte Politik hat. Damit bin ich einverstanden, ich unterschreibe meinen Arbeitsvertrag. Aber ich mag den Geschäftsführer nicht. Ich mag auch nicht, was das Unternehmen macht. Also will ich den Geschäftsführer auswechseln. Das gehört aber nicht zu deinen Aufgaben. Wenn du den Geschäftsführer nicht magst, dann berätst du ihn, du benutzt dazu die legalen Möglichkeiten, aber du kannst nicht einfach die Revolution im Unternehmen ausrufen. Wenn du die Politik des Unternehmens nicht magst, dann kannst du es sehr, sehr einfach verlassen. Aber du kannst die Muslimbrüder nicht zwingen, deiner Meinung zu folgen.«
Dieses ganz eigene Verständnis von Pluralismus haben auch die Gründer der Jugendpartei zu spüren bekommen – sie wurden aus der Muslimbruderschaft ausgeschlossen. Letztlich geht es den Ikhwan wie dem gesamten Land: Auch die Islamisten suchen im neuen Ägypten noch ihren Kurs. Wohin dieser Selbstfindungsprozess führen wird, lässt sich nur schwer sagen. Setzen sich die Gemäßigteren durch, könnte die türkische AKP zum Vorbild werden, die sich in der Regierung am Bosporus zu einer pragmatischen islamischen und demokratiefähigen Kraft entwickelt hat. Auf jeden Fall dürfte Ägypten mit einer Regierung, an der die Muslimbrüder beteiligt sind, islamischer werden. Die Islamwissenschaftlerin Gudrun Krämer erwartet etwa eine noch engherzigere Kulturpolitik:
»Also der Versuch, islamische Normen überall durchzusetzen, vielleicht auch den freien Ausdruck von künstlerischen, akademischen und sonstigen Meinungen einzugrenzen. Ich würde denken, dass sie versuchen, auf dem Feld des Rechts bestimmte islamische Vorstellungen durchzusetzen. Sie würden sicherlich darauf dringen, dass das, was sie für islamischen Anstand halten, in der Öffentlichkeit durchgesetzt wird: Schleier, eine gewisse Trennung der Geschlechter und so weiter. Aber ich gebe ihren Bekenntnissen zum parlamentarischen Rechtsstaat eine gewisse Glaubwürdigkeit. Sie haben selber einiges mitgemacht unter undemokratisch, repressiven Verhältnissen. Und es gibt kein Indiz dafür, dass sie hier nur täuschen und trügen.«
Natürlich wird sich auch Ägyptens außenpolitischer Kurs verändern – das Verhältnis zu den USA und zu Israel dürfte mit oder ohne Muslimbrüder an der Regierung schwieriger werden. Allerdings wissen auch die Islamisten, wie abhängig ihr Land von Washington ist. Den Bruch mit den USA kann sich keine ägyptische Regierung leisten.
Das sieht auch Muhammad Saad so, der die Zentrale der Muslimbrüder verlassen hat und in ein Caféhaus gegangen ist. Die Muslimbrüder seien nicht radikal, sondern pragmatisch, sagt er. Den 51-Jährigen ärgert es, wie undifferenziert seine Organisation oft gesehen wird – und dass die Muslimbrüder mit extremistischen Gruppen wie Al Kaida in einen Topf geworfen werden, empört ihn geradezu. Jetzt hätten die Muslimbrüder die Chance zu zeigen, wer sie wirklich seien.
»Wir leben jetzt in einem freien Land, und jeder sollte die gleichen Freiheiten und das gleiche Leben genießen. Wir müssen dem Westen und der internationalen Gemeinschaft beweisen, dass wir für sie besser sind als die vorherigen Herrscher. Wir müssen das beweisen. Das ist nicht einfach. Sie sind noch immer argwöhnisch.«