Rezension: «Der Aufstand»

Neue Zürcher Zeitung, 1. Dezember 2011

Volker Perthes: Der Aufstand

Niemand hat den arabischen Aufstand vorhergesagt, nicht einmal die Experten. Volker Perthes, Direktor der Stiftung Wissenschaft und Politik, kann sich zumindest zugutehalten, den Veränderungsdruck in den diktatorisch regierten Ländern beschrieben zu haben.

Überhaupt ist der Politikwissenschafter einer der besten Kenner der Region. Seinem Ruf wird er mit seinem neuesten Buch gerecht, denn der Band «Der Aufstand» ist das Beste, was bisher über den Umbruch im Nahen Osten geschrieben wurde. Sachlich und differenziert, aber nicht abgehoben analysiert Perthes die Ereignisse. Den Europäern gibt er eine klare Botschaft mit: Akzeptiert, dass ihr nicht bestimmen könnt, wer als Sieger aus den demokratischen Prozessen hervorgeht. Und öffnet eure Märkte für Waren und Menschen aus den arabischen Ländern.

Gerade der letzte Punkt ist für Perthes entscheidend. Aus lauter Angst vor Islamisten wird im Westen allzu oft vergessen, dass vor allem soziale Missstände die Proteste gegen die Diktatoren ausgelöst haben. Selbst hochqualifizierte Uni-Absolventen finden keine Jobs, was in den konservativen arabischen Gesellschaften besonders schwerwiegende Konsequenzen hat: Wer nicht arbeitet, verdient kein Geld, um zu heiraten, sondern bleibt abhängig von der Familie. Welche Kräfte auch immer künftig etwa in Tunesien oder Ägypten regieren, sie müssen die enorme soziale Not bekämpfen, soll die Transformation in demokratische Staaten gelingen – eine Herkulesaufgabe, die kein Land allein bewältigen kann.

Dennoch war die arabische Revolution nicht allein eine Brotrevolte, sondern auch ein Befreiungskampf der jungen Generation, die Perthes die «2011er» nennt. Diese erlebten in den vergangenen Jahren mehr wirtschaft- liche Freiheit, auch mehr Freiheit von Information und Kommunikation – ohne mehr politische Rechte zu erhalten. «Während die politischen Systeme überwiegend rigide blieben und Forderungen nach politischer Verantwortung oder gar nach der Ablösung der herrschenden Eliten notfalls mit repressiven Mitteln abwehrten, wurden die Gesellschaften offener und zunehmend pluralistisch», schreibt Perthes. Aus diesem Grund liessen sich die Proteste anders als früher auch nicht mehr in allen Ländern mit sozialen Wohltaten stoppen.

Wie schnell der Wandel gelingt, hängt nicht zuletzt von den Islamisten ab, die in Tunesien die Wahl gewonnen haben und auch in Ägypten mit guten Aussichten an den Start gegangen sind. Die Muslimbrüder sieht Perthes vor einem Realitätstest, weil die Menschen sie jetzt an ihren Leistungen messen würden. Längst hat auch unter den religiösen politischen Kräften ein Prozess der Pluralisierung und Ausdifferenzierung eingesetzt, im Zuge dessen sich Moderate von Extremisten trennten. Perthes rechnet damit, dass Islamisten als Teil einer Regierung pragmatisch handeln werden, und das nicht nur in Ägypten: «In praktisch allen arabischen Staaten gäbe es eine Basis für eine konservative Volkspartei religiöser Prägung nach dem Modell der türkischen AKP.»

Europa wird die Wahlsieger im Nahen Osten anerkennen müssen, seien sie religiös-islamistisch oder liberal-säkular. Es gelte, «Vertrauen auch zu Akteuren zu entwickeln, die man noch nicht kennt, ihnen einen gewissen Vertrauensvorschuss entgegenzubringen», mahnt Perthes. Die Regierungen im Westen werden sich diesen Ratschlag hoffentlich zu Herzen nehmen.

Volker Perthes: Der Aufstand. Die arabische Revolution und ihre Folgen. Pantheon Verlag, München 2011. 224 Seiten, 12,99 Euro.

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