Sari Nusseibeh: «Ein Staat für Palästina?»

Neue Zürcher Zeitung, 29. August 2012

Sari Nusseibeh: Ein Staat für Palästina?Der Philosoph Sari Nusseibeh ist einer der brillantesten palästinensischen Denker. In seinem neuesten Buch «Ein Staat für Palästina?» beerdigt er die Zwei-Staaten-Lösung. Die Palästinenser sollen lieber Bürger Israels werden. Ein Vorschlag von diabolischer Qualität.

Ginge es nur darum, praktische Lösungen zu finden, wäre der Nahostkonflikt längst gelöst. Für nahezu jedes Problem zwischen Israeli und Palästinensern ruht in irgendwelchen Schubladen ein möglicher Kompromiss. So weit die Theorie. In der Praxis hilft das nicht weiter, weil es auf beiden Seiten am Willen fehlt, Frieden zu schliessen und weil gegenseitiges Misstrauen herrscht. Mit den üblichen Methoden der Politik und Diplomatie dürfte sich der Konflikt auf absehbare Zeit nicht lösen lassen.

Da ist es erfrischend, das Buch eines Mannes zu lesen, der grundsätzlich alles gegen den Strich denkt und der das Ungewöhnliche für normal hält. Der Palästinenser Sari Nusseibeh, Harvard-Absolvent, Philosoph und Präsident der palästinensischen Al-Kuds-Universität, ist einer der brillantesten Intellektuellen seines Landes. Die Israeli haben ihn ins Gefängnis gesteckt, weil sie ihn für einen Spion hielten. Die eigenen Landsleute attackieren ihn, weil er es wagt, von bestimmten Rechten abzurücken, die unter vielen Palästinensern als unaufgebbar gelten. Nusseibeh lehnt Gewalt ab. Nicht besiegen will er die Israeli, sondern sie für die Palästinenser gewinnen.

«Ein Staat für Palästina?» heisst Nusseibehs neuestes Buch, und das Fragezeichen im Titel dürfte manchem Provokation genug sein. Ein eigener Staat ist für die Palästinenser – und auch für einen grossen Teil der internationalen Gemeinschaft – die Conditio sine qua non eines neuen Friedensvertrages. Nusseibeh aber erklärt das Projekt für gescheitert. Sein Vorschlag könnte unorthodoxer nicht sein, zumindest auf den ersten Blick: Israel soll die besetzten Gebiete annektieren, den Palästinensern sämtliche Bürgerrechte geben, ihnen aber die politischen Rechte vorenthalten. Israel bliebe dann ein jüdischer Staat – für die Israeli die Grundvoraussetzung für einen Kompromiss. Was hätten die Palästinenser davon? «Auf jeden Fall würde es ihnen unter solchen Bedingungen weitaus besser gehen als in den über vierzig Jahren Okkupation oder in einem anderen denkbaren Szenario: der israelischen Hegemonie über verstreute, ‹autonome palästinensische Enklaven.»

Man könnte das für Gequatsche eines altklugen Intellektuellen halten, tatsächlich hat Nusseibeh aus palästinensischer Sicht aber vor allem eins: recht. All die bisherigen anvisierten Lösungen haben die Lage der Palästinenser kontinuierlich verschlechtert. Warum also daran festhalten? Über die Ein-Staat-Lösung sollte zumindest wieder nachgedacht werden. Aus israelischer Sicht hat Nusseibehs Vorschlag jedoch eine geradezu diabolische Qualität. Auch er weiss, dass ein Staat einem Grossteil seiner Bürger – in diesem Fall den Palästinensern – nicht auf Dauer die politischen Rechte verweigern kann. Liesse sich Israel auf diesen Vorschlag ein, wäre das das Ende des israelischen Staates in seiner bisherigen jüdischen Form. Deshalb würde Israel einer solchen Lösung niemals zustimmen.

Nusseibeh geht es darum, alles grundsätzlich zu hinterfragen. Das ist seine Botschaft an seine Landsleute.

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